Autonomes Fahren wird die urbane Mobilität maßgeblich verändern. Welche Servicekonzepte in Europa die größten Potenziale haben, welche Anforderungen Nutzer*innen autonomer Mobilitätsdienste haben und was das für die Akteure der urbanen Mobilität bedeutet, erklärt Mobilitätsexperte Augustin Friedel.
Augustin Friedel ist Experte und Trusted Advisor für die Mobilitätswende und die Definition autonomer Fahrsysteme bei MHP – A Porsche Company. Zusammen mit Fraunhofer veröffentlichte MHP kürzlich das Whitepaper „Close the Autonomous Gap“. Anhand von acht Mobilitätsthesen zeigt es Leitlinien für die erfolgreiche Einführung autonomer Mobilität und Logistiksysteme auf.
Herr Friedel, wo stehen wir bei der autonomen Mobilität in Europa?
Wir befinden uns noch am Anfang der Möglichkeiten. Derzeit gibt es in Europa hauptsächlich Pilotprojekte, die mit älteren technischen Fahrzeugmodellen umgesetzt werden. Jedoch wird für die nächsten Jahre ein Schub erwartet: Ab 2023/2024 soll eine nächste Generation an autonomen Fahrzeugen in Europa getestet werden. Ab 2025/2026 wird es dann besonders spannend, weil einige Automobil-Zulieferer neue Shuttles mit umfassenden autonomen Fähigkeiten für Europa angekündigt haben.
Flughäfen, Campus oder Warentransport. Es gibt einige Servicekonzepte im Bereich autonomes Fahren – welche haben Ihrer Meinung nach die größten Potenziale in Europa?
In Europa wird autonomen Shuttles insgesamt das größte Potenzial zugesprochen – und das als Teil oder Ergänzung zum öffentlichen Nahverkehr. In vielen europäischen Städten ist der öffentliche Nahverkehr als Rückgrat der städtischen Mobilität stark ausgebaut. Ridepooling in autonomen Shuttles kann den klassischen Linienverkehr flexibel ergänzen. Solche On-Demand-Sharing-Angebote können ein wichtiger Hebel sein für mehr und bedarfsorientierteren Nahverkehr.
Welche Effekte erwarten Sie auf den motorisierten Individualverkehr (MIV) und die Verkehrsinfrastruktur, wenn autonome Shuttles zunehmend auf den Straßen eingesetzt werden?
Das hängt maßgeblich davon ab, unter welchen Umfeldbedingungen autonome Mobilitätsdienste eingesetzt werden. Viele aktuelle Überlegungen gehen in die Richtung, autonome Shuttles zu Randzeiten und in Gebieten einzusetzen, die durch den ÖPNV unterversorgt sind. Der Einfluss auf den MIV wird in diesen Szenarien gering sein. In urbanen Räumen kann es durch autonome Flotten am Anfang zu mehr Verkehr kommen, wenn weitere Fahrzeuge auf die Straße kommen. Langfristig hat beispielsweise autonomes Ridepooling in dicht besiedelten Gebieten das Potenzial, den städtischen Verkehr zu entlasten. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass die Nutzer*innen Vertrauen in autonome Mobilitätsdienste aufbauen. Zudem müssen sich diese im Hinblick auf Preis, Verfügbarkeit und Flexibilität mit dem privaten Auto messen lassen können. Autonomes Fahren ist dafür eine Schlüsseltechnologie: Die Fahrtkosten können erheblich gesenkt werden, gleichzeitig kann die Technologie die Verfügbarkeit und die Flexibilität von Mobilitätsdiensten erhöhen. Ein zusätzlicher Hebel für Modalverlagerungen sind sogenannte Push-Maßnahmen. Die realistische Bepreisung von Parkraum, Tempo 30, City-Mauts usw. reduzieren die Attraktivität des privaten Autos in Bezug auf Kosten oder Komfort.
Wie bewerten Sie die Akzeptanz von autonomen Mobilitätsdiensten?
Wir gehen davon aus, dass zunächst technisch affine und jüngere Zielgruppen autonome Mobilitätsdienste nutzen werden. Vergleichbare Erfahrungen konnten in den letzten Jahren bei fahrerbasierten Ridehailing- und Micro-Mobility-Diensten beobachtet werden. Aber letztlich wird es stark davon abhängen, wie die autonomen Mobilitätssysteme umgesetzt werden und in welchem Umfeld. Dabei spielt Vertrauen in solche Services eine zentrale Rolle.
Welchen Akteuren würden Nutzer*innen am ehesten Vertrauen schenken, wenn es um autonome Mobilitätsdienstleistungen geht?
Unsere Studie zeigt, dass die großen Mobilitätsplattformen weit weniger Vertrauen in Bezug auf den Betrieb von autonomen Diensten genießen als die heutigen Betreiber der öffentlichen Nahverkehrssysteme oder städtische Akteure. Dieser Trend ist in Europa stärker ausgeprägt als in anderen Weltregionen wie USA oder China. Für den Betrieb von autonomen Shuttle-Diensten müssen Nahverkehrsunternehmen jedoch noch das Verständnis für die Potenziale der Technologie schärfen und das nötige technische und organisatorische Know-how aufbauen.
In Ihrem Whitepaper "Close the Autonomous Gap" stellen Sie konkrete Handlungsempfehlungen vor, um den Wandel durch autonome Mobilität erfolgreich zu meistern. Worauf kommt es an?
Die erfolgreiche Einführung von autonomen Mobilitätsdiensten kann nur gemeinsam gelingen. Akteure aus den unterschiedlichsten Bereichen, wie z.B. Anbieter von selbstfahrenden Systemen, Fahrzeugherstellern, Mobilitätsdiensten bzw. Plattformen und Flottenbetreibern, müssen tiefenintegrierte Systeme entwickeln und implementieren. Und zwar so, dass sie zu den lokalen Gegebenheiten passen. Zudem sind aus Sicht der Anbieter Herausforderungen bei der Preisgestaltung und Zahlungsbereitschaft zu lösen. Die Auslastung der autonomen Systeme wird entscheidend sein, um attraktive Nutzungsgebühren zu ermöglichen. Die Politik sorgt im Idealfall für einen progressiven regulatorischen Rahmen und unterstützt bei den Investments in die erforderliche Infrastruktur.